Der Vorerbe – Ein Erbe auf Zeit

In unserem aktuellen Artikel beschäftigen wir uns mit der Konstruktion der Vor- und Nacherbschaft, einem oft komplizierten Thema im Erbrecht. Am Beispiel eines praxisnahen Falls, in dem ein verwitweter Erblasser seine jüngere Ehefrau als befreite Vorerbin und seine Kinder aus erster Ehe als Nacherben einsetzt, beleuchten wir die Herausforderungen und rechtlichen Implikationen dieser Regelung. Konflikte zwischen Vorerben und Nacherben können nicht nur zu Unstimmigkeiten führen, sondern auch rechtliche Ansprüche und Vermögenswerte gefährden.

Wir zeigen Ihnen, welche Rechte und Pflichten ein Vorerbe hat, welche Fallstricke zu beachten sind und wie Sie rechtliche Auseinandersetzungen vermeiden können. Zudem geben wir Ihnen wertvolle Hinweise zur steuerlichen Behandlung der Vorerbschaft und möglichen Gestaltungsmöglichkeiten.

Erfahren Sie, wie Sie Ihre Interessen im Erbrecht wahren und das Risiko von Erbstreitigkeiten minimieren können. Lesen Sie den vollständigen Artikel, um fundierte Erkenntnisse über die Vor- und Nacherbschaft zu erhalten!

Einleitung

Bei der gesetzlichen oder gewillkürten Erbfolge geht der Nachlass grundsätzlich auf den Erben über, der über das geerbte Vermögen seinerseits von Todes wegen frei verfügen kann (sog. Vollerbschaft). Will ein Erblasser diese Konsequenz vermeiden, bietet sich die rechtliche Konstruktion der Vor- und Nacherbschaft an. Sie ermöglicht es dem Erblasser, einen Vorerben nach eigenem Ermessen in seiner Dispositionsbefugnis über den Nachlass einzuschränken und damit das weitere Schicksal des vererbten Vermögens festzulegen. Auch das Gesetz kennt den befreiten und den nicht befreiten Vorerben, die jeweils unterschiedlichen Einschränkungen unterliegen. Die Konstruktion der Vor- und Nacherbschaft ist kompliziert und führt nicht selten bei der späteren Abwicklung zu Streit zwischen den Beteiligten.

Praxisfall

Der 72 Jahre alte verwitwete E heiratet im Jahr 2015 die 25 Jahre jüngere F. Parallel errichtet E ein privatschriftliches Testament, in dem er seine Ehegattin als „befreite Vorerbin“ und seine Kinder aus erster Ehe K1 und K2 zu Nacherben einsetzt. Das Vermögen des E besteht im Wesentlichen aus einem Mehrfamilienhaus in der Innenstadt von Münster. E ist auch Eigentümer einer wertvollen Oldtimer-Sammlung.

E verstirbt im Jahr 2018 plötzlich und unerwartet an einem Herzinfarkt. F, die über kein eigenes Vermögen verfügt, verkauft die Immobilie für 3 Mio. € an D. Den Jaguar aus dem Nachlass ihres verstorbenen Ehemannes (Wert: 50.000,- €) schenkt sie ihrem Lieblingsneffen N. F bezieht eine Wohnung in der Innenstadt. Die monatliche Miete beträgt 2.500,- €. Freundinnen erzählt sie, sie plane eine Weltreise mit einem Kreuzfahrtschiff.

Als K1 und K2 hiervon erfahren, sind sie schockiert. Sie befürchten, dass die Stiefmutter F, die nach der Sterbetafel noch eine statistische Lebenserwartung von 30,3 Jahren hat, das Erbe ihres Vaters aufbraucht. Sie verlangen, dass D die Immobilie und N den Pkw auf F zurücküberträgt. F soll ihnen gegenüber außerdem Rechenschaft ablegen über sämtliche Einnahmen und Ausgaben, die die Vorerbschaft betreffen.

Die rechtliche Konstruktion

Der Erblasser kann einen Erben in der Weise einsetzen, dass er erst Erbe wird, nachdem zunächst ein anderer Erbe geworden ist, § 2100 BGB. Sowohl der zunächst berufene Vorerbe als auch der danach berufene Nacherbe sind beide Erben des Erblassers. Der Nacherbe beerbt nicht den Vorerben, sondern nur den Erblasser. Es geht also nur das von der Vorerbschaft umfasste Vermögen des Erblassers, nicht aber das sonstige Vermögen des Vorerben auf ihn über. Die Anordnung der Vorerbschaft ist dabei nicht bezogen auf einzelne Vermögensgegenstände – z. B. eine Immobilie – zulässig. Die Nacherbfolge tritt mit dem Tod des Vorerben ein, soweit der Erblasser nicht Anderweitiges bestimmt hat, § 2106 Abs. 1 BGB. Den Zeitpunkt des Eintritts des Nacherbfalls kann der Erblasser auch vorverlagern, z. B. auf den einer Wiederverheiratung des überlebenden Ehegatten.

Rechtsposition des befreiten und nicht befreiten Vorerben

Der Vorerbe ist nur auf Zeit Inhaber sämtlicher Vermögenswerte, die zum Nachlass des Erblassers gehören (Immobilien, Konto- und Depotvermögen, Forderungen, Schmuck, Pkw, Inventar etc.). Das Ererbte bleibt hierbei ein von seinem eigenen Vermögen abzugrenzendes Sondervermögen, das Verfügungsbeschränkungen und Verwaltungspflichten unterworfen ist.

In den §§ 2112 f. BGB ist das gesetzgeberische Leitbild der Vorerbschaft normiert. Dem Vorerben werden darin diverse Beschränkungen und Verpflichtungen auferlegt. Während besondere Beschränkungen und Verpflichtungen, die das Wesen der Vorerbschaft ausmachen, zwingend gelten und nicht disponibel sind, enthält § 2136 BGB für andere Beschränkungen und Verpflichtungen eine Öffnungsklausel. Danach steht es dem Erblasser frei, seinen Vorerben von den in § 2136 BGB abschließend aufgelisteten Beschränkungen und Verpflichtungen zu befreien.

Verpflichtungen und Beschränkungen, bei denen eine Befreiung des Vorerben zulässig ist

  • entgeltliche Verfügungen über Grundstücke, Schiffe, Schiffsbauwerke sowie Rechte an solchen (§§ 2113 Abs. 1, 2114 BGB),
  • Pflicht zur Hinterlegung/Umschreibung von Inhaberpapieren und Buchforderungen (§§ 2116 – 2118 BGB),
  • Anforderungen an eine mündelsichere Anlegung von Geld (§§ 2119, 1806 f. BGB),
  • Feststellung eines Wirtschaftsplans (§ 2123 BGB),
  • Pflicht zur Auskunftserteilung und Sicherheitsleistung (§§ 2127 – 2129 BGB),
  • Anforderungen an den Maßstab für die Verwaltung samt Rechenschaftspflicht und Wertersatz (§§ 2130 f. BGB sowie §§ 2133 f. BGB).

Verpflichtungen und Beschränkungen, bei denen eine Befreiung des Vorerben nicht zulässig ist

  • Grundsatz der dinglichen Surrogation (§ 2111 BGB),
  • Verbot der unentgeltlichen Verfügung über Erbschaftsgegenstände mit Ausnahme bloßer Pflicht- und Anstandsschenkungen (§ 2113 Abs. 2 BGB),
  • Beschränkung der Eigengläubiger des Vorerben bei Zwangsvollstreckungsverfügungen (§ 2115 BGB),
  • Verpflichtung zur Vorlage eines Verzeichnisses der Erbschaftsgegenstände (§ 2121 BGB),
  • Duldung der Feststellung des Zustands der Erbschaft durch einen von dem Nacherben beauftragten Sachverständigen (§ 2122 Satz 2 BGB),
  • Verpflichtung des Vorerben, Schadensersatz zu leisten aufgrund einer unentgeltlichen Verfügung über Erbschaftsgegenstände oder einer Minderung der Erbschaft in der Absicht, den Nacherben zu benachteiligen (§ 2138 Abs. 2 BGB).

Die rechtliche und wirtschaftliche Position eines nicht befreiten Vorerben ist danach nicht wesentlich besser als die eines Nießbrauchers. Ihm stehen nur die Nutzungen des Vermögens zu; die Substanz darf er – anders als der befreite Vorerbe – nicht angreifen. Der Vorerbe unterliegt dabei allerdings immer dem Schenkungsverbot und der Verpflichtung, Schadensersatz im Fall einer unentgeltlichen Verfügung oder absichtlichen Benachteiligung des Nacherben leisten zu müssen.

Hinweis

Weil die Frage, ob der Erblasser eine Befreiung des Vorerben gegenständlich beschränken kann, höchstrichterlich nicht abschließend geklärt ist, sollte in solchen Fällen eine Alternativgestaltung erfolgen, die die Zuwendung des befreiten Gegenstandes durch Vorausvermächtnis an den Vorerben vorsieht. Möglich ist auch eine Verpflichtung des Nacherben, wonach dieser einer Verfügung über den Gegenstand zuzustimmen hat.

Ein wesentlicher Unterschied zwischen einer befreiten und nicht befreiten Vorerbschaft ist, dass der nicht befreite Vorerbe nicht wirksam über Grundstücke verfügen kann. Verfügt der befreite Vorerbe über Grundstücke, ist dies allerdings nur wirksam, wenn die Verfügung nicht ganz oder teilweise unentgeltlich erfolgt.

Hinweis

Die Absicherung des Nacherben in Bezug auf Immobilien des Erblassers erfolgt durch Eintragung eines Nacherbenvermerks im Grundbuch, die grundsätzlich eine wirksame Übertragung des Grundbesitzes blockieren kann. Verfügt ein befreiter Vorerbe über Grundbesitz, kommt es darauf an, ob es sich um ein entgeltliches oder ein unentgeltliches Geschäft handelt. Weist der Vorerbe dem Grundbuchamt nach, dass es sich um ein vollentgeltliches Rechtsgeschäft handelt, ist das Eigentum auf den Erwerber umzuschreiben. Der Kaufpreis tritt in diesem Fall an die Stelle des Grundstücks und zählt als Surrogat fortan zur Erbschaft, die später auf den Nacherben übergeht (§ 2111 BGB).

Typische Konstellationen

Die Anordnung einer Vor- und Nacherbfolge kann aus folgenden Gründen sinnvoll sein:

  • Der Erblasser möchte sicherstellen, dass sein Vermögen über Generationen in der Familie gebunden bleibt und nicht an familienfremde Dritte weitergegeben wird. Typischerweise wird der Erblasser in diesen Fällen seinen Ehegatten als Vorerben und seine Kinder und deren Abkömmlinge als Nacherben einsetzen.
  • Ein typischer Anwendungsfall ist das sog. „Geschiedenentestament“. Da der Nachlass in der Hand des Vorerben ein Sondervermögen darstellt, gehört er nicht zu dem Nachlass des Vorerben und wird auch nicht bei der Berechnung der Höhe des Pflichtteilsanspruchs nach dem Vorerben herangezogen. Die Anordnung der Vor- und Nacherbfolge verhindert somit das Abwandern des Vermögens des Erblassers an störende Erben und Pflichtteilsberechtigte des Vorerben, etwa an nichteheliche Kinder des zum Vorerben eingesetzten Ehegatten oder an dessen Kinder aus einer früheren Ehe, an den späteren Ehegatten des Vorerben oder an den geschiedenen Ehegatten des Erblassers als Pflichtteilsberechtigten des zum Vorerben berufenen gemeinsamen Kindes.
  • Der Erblasser möchte dem an sich vorgesehenen Erben den Nachlass erst zukommen lassen, wenn dieser ein bestimmtes Alter erreicht hat oder ein bestimmtes Ereignis (Heirat, Abschluss Studium/Ausbildung etc.) eingetreten ist.
  • Das Sondervermögen unterliegt einem Zwangsvollstreckungsschutz. Die Anordnung einer Vor- und Nacherbfolge kann daher vermeiden, dass der Nachlass zur Begleichung von Verbindlichkeiten des Vorerben aufgezehrt wird.
  • Ein weiterer praktischer Anwendungsfall ist das sog. „Behindertentestament“, dessen Zweck es ist, den Nachlass dem Regress des Sozialhilfeträgers zu entziehen. Es handelt sich hierbei um eine sachgerechte Gestaltung und verstößt insbesondere nicht gegen die guten Sitten, § 138 Abs. 1 BGB. Regelmäßig wird in solchen Fällen Testamentsvollstreckung angeordnet.

Hinweis

Ob und in welchem Umfang der Erblasser den Vorerben befreien will, ist durch Auslegung der letztwilligen Verfügung zu ermitteln. Entscheidend kommt es darauf an, ob der Befreiungswille in der letztwilligen Verfügung irgendwie zum Ausdruck kommt. Hat der Erblasser etwa den Nacherben in seinem Testament auf dasjenige eingesetzt, was von der Erbschaft bei dem Eintritt der Nacherbfolge noch übrig sein wird, gilt der Vorerbe als umfassend befreit (§ 2137 Abs. 1, § 2136 BGB). Der Erblasser kann eine ansonsten erforderliche Auslegung und späteren Streit leicht vermeiden, indem er in seinem Testament eine unmissverständliche Verfügung zu dem Umfang einer etwaigen Befreiung des Vorerben trifft, z. B. indem er anordnet, dass der Vorerbe „umfassend von den in § 2136 BGB aufgeführten Beschränkungen und Verpflichtungen befreit“ ist.

Steuerliche Behandlung der Vorerbschaft

Der Vorerbe gilt gemäß § 6 Abs. 1 ErbStG als Erbe. Er hat den Nachlass gemäß § 6 Abs. 1 ErbStG i. V. m. §§ 9, 5 BewG so zu versteuern, als sei er ohne jegliche Beschränkungen Erbe geworden. Die Tatsache, dass er bei Eintritt der Nacherbfolge den Nachlass an den Nacherben herausgeben muss, bleibt beim Vorerben unberücksichtigt. Das kann bei wirtschaftlicher Betrachtung zu einer Verdoppelung der Erbschaftsteuer führen. Das Gesetz sieht jedoch in bestimmten Fällen die Möglichkeit vor, die unerwünschte Doppelbelastung abzumildern.

Lösung des Praxisfalls

E hat F in seinem Testament als „befreite Vorerbin“ eingesetzt, wodurch die F umfassend gemäß § 2136 BGB befreit werden sollte. Damit unterlag F nicht der Beschränkung aus § 2113 Abs. 1 BGB. Die Verfügung über die Immobilie durch Verkauf an D ist damit wirksam. Ein Anspruch auf Rückübertragung der Immobilie besteht nicht. Der Kaufpreis von 3 Mio. € tritt jedoch als Surrogat an die Stelle der Immobilie und gehört fortan zu dem Sondervermögen, das mit Eintritt des Nacherbfalls (Tod der F, § 2106 BGB) auf die Nacherben K1 und K2 übergeht.

F hat den Jaguar an N verschenkt und dadurch gegen das Verbot der unentgeltlichen Verfügung über Erbschaftsgegenstände verstoßen (§ 2113 Abs. 2 BGB), von dem E sie aufgrund der gesetzgeberischen Vorgaben nicht befreien konnte. Es liegt auch keine Pflicht- und Anstandsschenkung vor. Infolge der Schenkung des Jaguars haftet F den Nacherben K1 und K2 auf Schadensersatz in Höhe von 50.000,- € aus § 2138 Abs. 2 BGB.

Aufgrund der diesbezüglichen Befreiung durch E (§ 2136 i. V. m. § 2130 Abs. 2 BGB) ist F gegenüber den Nacherben nicht verpflichtet, Rechenschaft abzulegen. Ebenso wenig sind K1 und K2 berechtigt, Auskunft über den Bestand der Erbschaft zu verlangen, auch wenn Grund zu der Annahme besteht, dass F durch ihre Verwaltung die Rechte von K1 und K2 erheblich verletzt (§ 2136 i. V. m. § 2127 BGB). Allerdings trifft F einmalig die Verpflichtung zur Erstellung eines Bestandsverzeichnisses (§ 2121 BGB). Der Erblasser E konnte F auch als befreite Vorerbin hiervon nicht entbinden.

Fazit

Die Vor- und Nacherbfolge ist ein kompliziertes Gestaltungsinstrument. Der Erblasser kann einen Erben in der Weise einsetzen, dass dieser erst Erbe wird, nachdem zunächst ein anderer Erbe geworden ist (Nacherbe). Der Vorerbe ist Erbe auf Zeit. Zu unterscheiden ist sein eigenes Vermögen von dem Sondervermögen des Erblassers, das bestimmten Verwaltungspflichten und Verfügungsbeschränkungen unterworfen ist. Der nicht befreite Vorerbe hat die Stellung eines Nießbrauchers, während der befreite Vorerbe auch die Substanz des Sondervermögens angreifen darf. Beide unterliegen jedoch dem Schenkungsverbot. Die Anordnung einer Vor- und Nacherbfolge sowie die Geltendmachung von Ansprüchen eines Vorerben bzw. eines Nacherben sollten nie ohne fachkundige Beratung erfolgen.

Autoren

Dr. Thomas Leuer und Dr. W.-P. Haarmann sind Fachanwälte für Erbrecht. Sie sind auf das streitige Erbrecht spezialisiert.

Dr. Peus · Dr. Leuer · Dr. Haarmann
Partnerschaft von Rechtsanwälten mbB · Notar