Die taktische Ausschlagung beim Berliner Testament

In unserem aktuellen Artikel beleuchten wir, wie die taktische Ausschlagung eines Berliner Testaments genutzt werden kann, um steuerliche Vorteile zu erzielen und unerwartete Entwicklungen im Nachlass zu berücksichtigen. Anhand eines Praxisfalls zeigen wir auf, wie ein überlebender Ehepartner die Erbschaft ausschlagen kann, um den Zugewinnausgleich und steuerfreie Freibeträge optimal auszunutzen. Wir erläutern die rechtlichen Rahmenbedingungen, die Risiken und die entscheidenden Überlegungen, die vor einer solchen Ausschlagung zu beachten sind.

Lesen Sie den vollständigen Artikel, um mehr über die Möglichkeiten und Grenzen dieses postmortalen Gestaltungsinstruments zu erfahren.

Einleitung

Nach dem System des deutschen Erbrechts gilt der Vonselbsterwerb, d. h. die Erbschaft fällt dem Erben bereits mit Eintritt des Todes des Erblassers von selbst an. Eine Erbausschlagung bildet das erforderliche Korrektiv (§ 1942 BGB), um eine Haftung des Erben für überschuldete Nachlässe sowie aufgedrängte, unerwünschte Bereicherungen zu verhindern. Der Erbschaftserwerb ist zunächst nur vorläufig, da er unter Einhaltung von Fristen durch Ausschlagung rückgängig gemacht werden kann. Unter bestimmten Voraussetzungen kann eine Ausschlagung aus taktischen Erwägungen angezeigt und zweckmäßig sein. Sie tangiert nicht nur die Rechtssphäre des Ausschlagenden, sondern verändert die gesamte Struktur der Erbfolge. Daher ist Vorsicht geboten, um unerwünschte Ergebnisse zu vermeiden.

Praxisfall

Z verstirbt am 08.05.2023 unerwartet im Alter von 58 Jahren. Er hinterlässt seine Ehefrau F und zwei erwachsene Abkömmlinge. Die Eheleute – verheiratet im gesetzlichen Güterstand der Zugewinngemeinschaft – hatten im Jahr 1998 ein privatschriftliches Testament errichtet, in dem sie sich gegenseitig zu alleinigen Erben eingesetzt haben und ihre Abkömmlinge S und T als Schlusserben zu gleichen Teilen. Z, der sich im Jahr 1992 als Zahnarzt selbständig gemacht hatte, wollte F mit dem Testament für den Fall seines Vorversterbens absichern. In den Nachlass des Z fällt ein Aktiendepot im Wert von 600.000,- Euro und ein Mehrfamilienhaus im Wert von 1,0 Mio. Euro. Die Witwe F, die während der Ehe bei ihrem Ehegatten in der Zahnarztpraxis geringfügig beschäftigt war, ist alleinige Inhaberin eines Sparkontos mit einem Guthaben von 50.000,- Euro.

F ist nach dem Tod ihres Ehegatten völlig überfordert. Sie lässt sich anwaltlich beraten.

Die Ausschlagung als postmortales Gestaltungsinstrument

Der Erwerb von Todes wegen wird durch den Grundsatz der Gesamtrechtsnachfolge (§ 1922 Abs. 1 BGB) und das Prinzip des Vonselbsterwerbs (Anfallprinzip) geprägt. Um auf den ohne oder gar gegen seinen Willen eintretenden Vonselbsterwerb reagieren zu können, gewährt § 1942 Abs. 1 BGB dem Erben das Recht, sich durch Ausschlagung von der Erbschaft zu lösen.

Das Ausschlagungsrecht gibt dem vorläufigen Erben die Möglichkeit, den Erbschaftsanfall durch einseitige, empfangsbedürftige Willenserklärung rückwirkend zu beseitigen (§§ 1945, 1953 BGB). Es handelt sich um ein Gestaltungsrecht, welches erlischt, wenn der Erbe die Erbschaft angenommen hat oder die Ausschlagungsfrist verstrichen ist (§ 1943 BGB). Einzig der Fiskus kann die gesetzlich angefallene Erbschaft nicht ausschlagen (§ 1942 Abs. 2 BGB).

Entscheidet sich ein Erbe dafür, seine Rechtsposition aufzugeben, hat die Ausschlagung form- und fristgerecht zu erfolgen. Der Erbe hat die Erbschaft binnen sechs Wochen ab Kenntnis von dem Anfall der Erbschaft und dem Grunde der Berufung (§ 1944 Abs. 1, 2 Satz 1 BGB), binnen sechs Monaten bei Auslandsbezug (§ 1944 Abs. 3 BGB), durch Erklärung gegenüber dem Nachlassgericht zu Protokoll des Gerichts oder in öffentlich beglaubigter Form (§ 1945 BGB) auszuschlagen. Die wirksame Ausschlagung hat zur Folge, dass der Anfall der Erbschaft als nicht erfolgt anzusehen ist (§ 1953 Abs. 1 BGB) und die Erbschaft demjenigen anfällt, der berufen sein würde, wenn der Ausschlagende zur Zeit des Erbfalls nicht gelebt hätte (§ 1953 Abs. 2 BGB). Die Ausschlagung erstreckt sich im Zweifel gemäß § 1949 Abs. 2 BGB sowohl auf die Berufung als testamentarischer als auch als gesetzlicher Erbe. Der Ausschlagende verliert – wenn kein Fall des § 1371 BGB, § 2306 BGB oder § 2307 BGB vorliegt – mit Ausschlagung auch seinen Pflichtteilsanspruch.

Güterrechtliche Lösung

Eine Ausnahme von dem Grundsatz, dass der Ausschlagende auch seinen Pflichtteilsanspruch verliert, ist zugunsten des überlebenden Ehegatten in § 2303 Abs. 2 S. 2 i. V. m. § 1371 Abs. 2, 3 BGB geregelt. Diese sog. güterrechtliche Lösung ist der in der Praxis bedeutsamste Grund, eine Erbschaft auszuschlagen, weil sie zugleich auch eine Begünstigung von Abkömmlingen und die Ausnutzung weiterer Freibeträge ermöglicht. Die güterrechtliche Lösung hat zum Inhalt, dass der längerlebende Ehegatte, der weder als Erbe noch als Vermächtnisnehmer berufen ist bzw. die Erbschaft oder das Vermächtnis ausgeschlagen hat,

  • den konkret berechneten Zugewinnausgleichsanspruch nach § 1371 Abs. 2 BGB verlangen kann,
  • zusätzlich den sog. kleinen Pflichtteil nach § 1371 Abs. 2, 2. Halbsatz, Abs. 3 BGB beanspruchen kann, welcher sich aus dem nicht erhöhten gesetzlichen Erbgattenerbteil nach § 1931 BGB errechnet.

Die Ausschlagung des Alleinerben bei einem Berliner Testament

Häufig haben Ehegatten bereits vor Jahrzehnten ein gemeinschaftliches Testament errichtet, das sie sodann nicht mehr verändert und an ihre positiv veränderten wirtschaftlichen Verhältnisse angepasst haben. Durch eine darin enthaltene Alleinerbenstellung des überlebenden Ehegatten werden beim Tod des erstversterbenden Elternteils die erbschaftsteuerlichen Freibeträge der Kinder (§ 16 Abs. 1 Nr. 2 EStG) nicht genutzt und beim Tod des längerlebenden Ehegatten geht darüber hinaus das gesamte Vermögen der beiden Eheleute auf einmal auf die Kinder über, was erbschaftsteuerlich ebenfalls nachteilig ist.

In diesem Zusammenhang verspricht die Regelung des § 1948 BGB auf den ersten Blick, Abhilfe zu schaffen. Danach kann der überlebende Ehegatte die Erbschaft als testamentarischer Erbe ausschlagen und gleichzeitig gesetzlicher Erbe werden mit der Folge, dass der überlebende Ehegatte im Fall der Zugewinngemeinschaft neben den Abkömmlingen Erbe zu 1/2 Anteil wäre, §§ 1931, 1371 Abs. 1 BGB. Auf diese Weise würden bereits mit dem Tod des erstversterbenden Ehegatten Vermögenswerte auf die Abkömmlinge übergehen, so dass sich deren erbschaftsteuerlicher Erwerb nach dem Letztversterbenden reduzieren würde. Der Nachlass wäre erbschaftsteuerlich insgesamt günstiger verteilt.

Bei der Ausschlagung ist in jedem Fall genau zu prüfen, ob der Erblasser für den Fall, dass der von ihm eingesetzte Erbe wegfällt, eine Regelung getroffen hat. Wenn nämlich testamentarisch eine Ersatzerbenregelung oder eine Anwachsung vorliegt, droht der Verlust von beabsichtigten Ansprüchen.

  • Teilweise wird zwar vertreten, dass der überlebende Ehegatte durch das Berliner Testament in besonderer Weise geschützt werde und deshalb berechtigt sei, die testamentarische Erbfolge auszuschlagen, seinen gesetzlichen Erbteil jedoch zugleich annehmen könne (MüKoBGB, § 1948 Rn. 8, § 1953 Rn. 12; BeckOK, § 1953 BGB Rn. 25.2).
  • Nach der Rechtsprechung und der auch in der Literatur herrschenden Meinung liegt jedoch in solchen Fällen häufig eine stillschweigende Ersatzerbeneinsetzung der Schlusserben vor. Denn eine ergänzende Auslegung nach § 1948 BGB und § 2097 BGB soll bei einem Berliner Testament in der Regel dazu führen, dass mit der bindenden Schlusserbeneinsetzung zugleich die Einsetzung der Kinder als Ersatzerben für den ersten Erbfall gewollt sei (vgl. OLG Düsseldorf, NJW-RR 2023, 1499; OLG Brandenburg, ErbR 2023, 525).

Die Ausschlagung der testamentarischen Erbschaft durch einen überlebenden Ehegatten führt nach der Rechtsprechung also nicht dazu, dass dieser als gesetzlicher Miterbe berufen bleibt, sondern dazu, dass die Erbschaft vollständig den Abkömmlingen als Ersatzerben anfällt.

Entscheidungsgrundlage für Ausschlagung

Ob der überlebende Ehegatte ausschlägt und die Ansprüche im Rahmen der güterrechtlichen Lösung geltend macht, setzt eine Interessenabwägung voraus. Der Ehegatte muss hierzu insbesondere den Wert des Nachlasses, die Höhe und den Wert des Erbteils und des Vermächtnisses sowie die Höhe des Zugewinns kennen. Jedenfalls die Ermittlung des Zugewinns ist in der Praxis bis zum Ablauf der kurzen Ausschlagungsfrist von nur sechs Wochen (§ 1944 BGB) kaum möglich. Dies gilt insbesondere dann, wenn Anfangs- oder privilegiertes Anfangsvermögen in Betracht kommt, der überlebende Ehegatte seinerseits einen Zugewinn erwirtschaftet hat oder Vermögenspositionen (wie Immobilien oder Unternehmensbeteiligungen) noch bezogen auf mehrere Zeitpunkte (Anfangs- und Endvermögen) zu bewerten sind. Zeitliche Probleme im Hinblick auf die Ausschlagungsfrist bestehen in der Regel hingegen nur dann nicht, wenn auf Seiten des Erblassers kein Anfangsvermögen vorhanden war, das Endvermögen sich im Wesentlichen mit dem Wert des Nachlasses deckt und der überlebende Ehegatte seinerseits keinen Zugewinn erwirtschaftet hat.

Praxistipp

Bei Ausschlagungserklärungen ist nicht nur im Hinblick auf die sehr kurz bemessene Frist von sechs Wochen (§ 1944 BGB), die häufig nicht zur Sachverhaltsaufklärung ausreicht, Vorsicht geboten. Darüber hinaus wird der Ausschlagende in der Regel nicht geschützt, wenn er bei einer lenkenden Ausschlagung einem Irrtum unterliegt. So hat der Bundesgerichtshof im Jahr 2023 entschieden, dass ein unbeachtlicher Motivirrtum vorliegt, wenn sich der Ausschlagende bei der Abgabe seiner Erklärung über die an seiner Stelle in die Erbfolge eintretende Person irrt (BGH, Beschl. v. 22.03.2023 – IV ZB 12/22).

Lösung Praxisfall

F ist als testamentarische Alleinerbin eingesetzt, würde mithin den gesamten Nachlass von 1,6 Mio. Euro erben. Nach Abzug des Freibetrages von 500.000,- Euro (§ 16 Abs. 1 Nr. 1 ErbStG) verbliebe – selbst wenn die Abkömmlinge S und T ihren Pflichtteil in Höhe von insgesamt 400.000,- Euro geltend machen würden (§ 10 Abs. 5 Nr. 2 ErbStG) – grundsätzlich noch ein steuerpflichtiger Erwerb von 700.000,- Euro (Steuersatz 19 %, § 19 ErbStG).

Daneben steht F folgende Option zur Verfügung:

Schlägt F die Erbschaft aus allen Berufungsgründen aus, wären die Abkömmlinge S und T grundsätzlich als Ersatzerben zu jeweils 1/2 Anteil berufen. § 1371 Abs. 3 BGB eröffnet F als Witwe insoweit die Möglichkeit, die Erbschaft auszuschlagen und neben dem tatsächlichen Zugewinnausgleichsanspruch, ihren (kleinen) Pflichtteil zu verlangen (sog. güterrechtliche Lösung). Der kleine Pflichtteil der F beliefe sich hier auf 1/8 Anteil.

Der Zugewinnausgleichsanspruch der F beträgt 775.000,- Euro, wenn bei beiden Eheleuten kein positives Anfangsvermögen zu berücksichtigen ist, vgl. § 1387 Abs. 1 BGB ([1,6 Mio. Euro – 50.000,- Euro] / 2). Der Betrag ist steuerfrei (§ 5 Abs. 2 ErbStG). Der Betrag in Höhe von 775.000,- Euro ist als Nachlassverbindlichkeit von dem Nettonachlass in Höhe von 1,6 Mio. Euro abzuziehen. Es verbleibt ein Betrag von 825.000,- Euro. Hieraus erhält die F ihren Pflichtteil von 1/8, mithin 103.125,- Euro. Insgesamt erhält somit F aus dem Nachlass steuerfrei einen Betrag in Höhe von 878.125,- Euro (775.000,- Euro + 103.125,- Euro).

Für die Abkömmlinge S und T verbleibt dann noch ein Betrag in Höhe von 721.875,- Euro (1,6 Mio. Euro – 878.125,- Euro), also für jeden von beiden ein Betrag von 360.937,50 Euro. Aufgrund ihrer Freibeträge von jeweils 400.000,- Euro gemäß § 16 Abs. 1 Nr. 2 ErbStG ist auch dieser Erwerb steuerfrei.

Praxistipp

Bei der güterrechtlichen Lösung ist ebenfalls Vorsicht geboten, da auf eine Zugewinnausgleichsforderung des überlebenden Ehegatten die Zuwendungen angerechnet werden, die dieser von seinem verstorbenen Ehegatten mit der Bestimmung der Anrechnung nach § 1380 Abs. 1 Satz 1 BGB erhalten hat. Dabei besteht eine Anrechnungsvermutung für Zuwendungen, die den Wert von Gelegenheitsgeschenken, die nach den Lebensverhältnissen der Ehegatten üblich sind, übersteigen (§ 1380 Abs. 1 Satz 2 BGB). Die Beweislast, dass keine Anrechnung gewollt war, trägt der beschenkte Ehegatte. Bevor eine Ausschlagung erklärt wird, sollte deshalb genau geprüft werden, ob sich der Ehegatte nicht etwaige Vorempfänge nach § 1380 BGB anrechnen lassen muss.

Fazit

Die Erbschaft fällt dem Erben im Augenblick des Todes des Erblassers von selbst an (§ 1922 Abs. 1 BGB). Der Erbe kann die Erbschaft binnen sechs Wochen ausschlagen. Hauptgrund für die Ausschlagung ist, bei einer Überschuldung des Nachlasses eine persönliche Haftung des Erben zu vermeiden. In vielen Fällen dient die Ausschlagung aber auch dem Zweck, die Erbschaftsteuer zu reduzieren. Eine solche taktisch motivierte Ausschlagung kann lebzeitige Fehler des Erblassers bei der Gestaltung seiner letztwilligen Verfügung nachträglich korrigieren oder bei tatsächlichen, von dem Erblasser nicht vorhergesehenen Entwicklungen angezeigt sein. Jede Ausschlagung muss gut überlegt sein. In der Praxis besteht zudem regelmäßig ein Zeitproblem, weil die Ausschlagungsfrist zwingend einzuhalten ist.

Autoren

Dr. Thomas Leuer und Dr. W.-P. Haarmann sind Fachanwälte für Erbrecht. Sie sind auf das streitige Erbrecht spezialisiert.

Dr. Peus · Dr. Leuer · Dr. Haarmann
Partnerschaft von Rechtsanwälten mbB · Notar