Die Selbstanfechtung durch den Erblasser beim gemeinschaftlichen Testament

In der komplexen Materie des Erbrechts ist die Selbstanfechtung durch den Erblasser beim gemeinschaftlichen Testament ein entscheidendes Thema, das viele Fragen aufwirft. In unserem aktuellen Artikel beleuchten wir den Fall von M und F, die ein gemeinschaftliches Testament verfasst haben und mit unerwarteten Herausforderungen konfrontiert werden, als M neu heiratet. Wir erklären, welche Bindungswirkung mit diesem Testament einhergeht und unter welchen Bedingungen M die Anfechtung seiner eigenen Verfügungen in Erwägung ziehen kann.

Besonders wichtig sind die Konsequenzen, die eine Selbstanfechtung für die Erbfolge hat, und die strategischen Überlegungen, die dabei zu beachten sind. Wir laden Sie ein, tiefer in die Thematik einzutauchen und zu erfahren, wie Sie Ihr Testament gestalten können, um unerwünschte Folgen zu vermeiden.

Lesen Sie den vollständigen Artikel, um mehr über die Möglichkeiten und Fallstricke dieser Thematik zu erfahren.

Einleitung

Bei gemeinschaftlichen Testamenten, die Eheleute privatschriftlich verfassen, wird häufig übersehen, dass mit dem Tod eines Ehegatten für den Längerlebenden eine Bindungswirkung eintritt, die vergleichbar ist mit der Bindung des Erblassers an vertragsmäßige Verfügungen in einem Erbvertrag. Der Längerlebende wird erbrechtlich lebenslang „in Ketten gelegt“. Heiratet er wieder, hat er grundsätzlich die Möglichkeit, die eingetretene Bindung durch Anfechtung der eigenen Verfügungen wegen des Hinzutretens eines neuen Pflichtteilsberechtigten zu beseitigen, § 2079 BGB. Ein Schritt, der gut überlegt sein will.

Praxisfall

M und F waren im gesetzlichen Güterstand miteinander verheiratet. Sie errichteten im Jahr 2015 ein gemeinschaftliches Testament, in dem sie sich zu Alleinerben eingesetzt haben und ihre beiden Kinder K1 und K2 zu gleichen Teilen zu ihren Schlusserben.

F verstirbt im Jahr 2017. Sie verfügt über eigenes Vermögen in Höhe von 50.000 €. M ist Eigentümer eines Mehrfamilienhauses mit einem Verkehrswert in Höhe von 2 Mio. €. Im Jahr 2020 heiratet M erneut. Sein Verhältnis zu seinen Kindern ist deshalb zerrüttet. Er fragt, ob er verhindern kann, dass K1 und K2 sein erhebliches Vermögen erben.

Grundsätze

Zu Lebzeiten können Ehegatten gemeinschaftliche Testamente einseitig widerrufen nach § 2271 Abs. 1 in Verbindung mit § 2296 Abs. 2 BGB. Falls zuvor kein solcher Widerruf erfolgt ist, tritt durch den Tod des erstversterbenden Ehegatten eine Bindungswirkung im Hinblick auf die in dem gemeinschaftlichen Testament vorgesehene Erbfolge ein. Enthält das gemeinschaftliche Testament keine Öffnungsklausel, sind nach dem Tod des erstversterbenden Ehegatten errichtete Testamente, die die Erbfolge ändern, unwirksam.

Der überlebende Ehegatte bleibt berechtigt, über sein Vermögen und das von dem vorverstorbenen Ehegatten geerbte Vermögen zu Lebzeiten zu verfügen (§ 2286 BGB), schafft durch lebzeitige Schenkungen aber die Grundlage dafür, dass die Schlusserben, die einen ausgehöhlten Nachlass vorfinden, Herausgabeansprüche gegen die Beschenkten aus § 2287 BGB geltend machen.

Wieder vollständig frei im Hinblick auf lebzeitige Verfügungen und die Regelung seiner Erbfolge kann der Erblasser nur in eng begrenzten Ausnahmefällen werden. Die Bindungswirkung kann der Längerlebende aufheben, indem er

  • rechtzeitig binnen der kurzen Frist von sechs Wochen ab Kenntnis von seiner Berufung als Erbe das ihm Zugewendete ausschlägt (§§ 2271 Abs. 2 Satz 1 2. Alt., 1944 BGB),

  • die Schlusserbeneinsetzung einseitig aufhebt, was – in der Praxis äußerst selten – nur bei schweren Verfehlungen des Bedachten, die eine Pflichtteilsentziehung rechtfertigen, möglich ist (§§ 2271 Abs. 2 Satz 2, 2294, 2336 BGB),

  • mit den Schlusserben einen Zuwendungsverzichtsvertrag schließt (§ 2352 BGB), wozu die Bedachten in aller Regel nur gegen Zahlung einer angemessenen Abfindung bereit sein werden,

  • die eigene Schlusserbeneinsetzung nach dem vorverstorbenen Ehegatten anficht (§§ 2281 ff., 2078 BGB), insbesondere weil ein neuer Pflichtteilsberechtigter gemäß § 2079 BGB hinzugetreten ist („Selbstanfechtung“).

Die Fallgruppe der Selbstanfechtung wegen des Hinzutretens eines Pflichtteilsberechtigten nach § 2079 BGB hat den Vorteil, dass der Erblasser nicht die kurze Ausschlagungsfrist einzuhalten hat (§ 2271 Abs. 2 Satz 1 2. Alt. BGB), nicht auf die Mitwirkung des Bedachten angewiesen ist (§ 2352 BGB) und der Erblasser selbst in der Lage ist, die Voraussetzungen des Hinzutretens eines Pflichtteilsberechtigten herbeizuführen, indem

  • der Längerlebende erneut heiratet (der neue Ehegatte ist gemäß § 2303 Abs. 2 Satz 1 BGB pflichtteilsberechtigt),

  • ein weiterer Abkömmling des Längerlebenden zur Welt kommt (der Abkömmling ist gemäß § 2303 Abs. 1 Satz 1 BGB pflichtteilsberechtigt),

  • der Längerlebende einen Abkömmling adoptiert (der adoptierte Abkömmling ist gemäß § 2303 Abs. 1 Satz 1 BGB pflichtteilsberechtigt).

§ 2079 BGB Anfechtung wegen Übergehung eines Pflichtteilsberechtigten

Eine letztwillige Verfügung kann angefochten werden, wenn der Erblasser einen zur Zeit des Erbfalls vorhandenen Pflichtteilsberechtigten übergangen hat, dessen Vorhandensein ihm bei der Errichtung der Verfügung nicht bekannt war oder der erst nach der Errichtung geboren oder pflichtteilsberechtigt geworden ist. Die Anfechtung ist ausgeschlossen, soweit anzunehmen ist, dass der Erblasser auch bei Kenntnis der Sachlage die Verfügung getroffen haben würde.

Hinweis

Die Anfechtung durch den Erblasser kann nur binnen Jahresfrist erfolgen (§ 2283 BGB). Die Anfechtungsfrist läuft ab dem Zeitpunkt, ab dem der Längerlebende die Grundlage der Anfechtung durch sein eigenes Verhalten selbst herbeigeführt hat, also seine erneute Heirat. Die Anfechtungserklärung bedarf der notariellen Beurkundung (§ 2282 Abs. 3 BGB).

Rechtliche Folgen der Selbstanfechtung nach § 2079 BGB

Nach herrschender Auffassung hat die Selbstanfechtung grundsätzlich die Nichtigkeit des gesamten Inhalts des gemeinschaftlichen Testaments zur Folge. Lässt sich hingegen feststellen, dass der Erblasser einzelne Verfügungen auch bei Kenntnis von dem Hinzutreten des Pflichtteilsberechtigten errichtet hätte, bleiben diese Verfügungen gemäß § 2079 Satz 2 BGB aufrechterhalten. Wechselbezügliche Verfügungen des anderen Ehegatten sind hingegen an § 2270 Abs. 1 BGB zu messen, sodass eine Anfechtung grundsätzlich auch deren Nichtigkeit zur Folge hat. Im Fall einer Selbstanfechtung fällt die Alleinerbenstellung des überlebenden Ehegatten mithin regelmäßig rückwirkend zum Stichtag Todestag des vorverstorbenen Ehegatten weg, weil die angefochtene Schlusserbeneinsetzung der gemeinsamen Kinder im Zweifel wechselbezüglich zur Erbeinsetzung des längerlebenden Ehegatten war (§§ 142, 2270 Abs. 1 BGB).

Mögliche Folgen einer Selbstanfechtung für die Erbfolge nach dem Erstversterbenden können danach sein:

  • Wiederaufleben einer früheren, infolge der wechselbezüglichen Verfügung unwirksamen Verfügung von Todes wegen,

  • Eintritt von Ersatzerben als Erben des Erstversterbenden,

  • Eintritt der gesetzlichen Erbfolge nach dem Erstversterbenden.

In der Regel führt die Selbstanfechtung auch zum Wegfall der gesetzlichen Erbenstellung, wonach der überlebende Ehegatte – den gesetzlichen Güterstand der Zugewinngemeinschaft unterstellt – Erbe zu 1/2 Anteil wird (§ 1931 Abs. 1, Abs. 3 BGB). Der überlebende Ehegatte büßt seine Erbenstellung nach dem Erstversterbenden vollständig ein. Die Schlusserbeneinsetzung beinhaltet aus Sicht des zuerst versterbenden Ehegatten nämlich in der Regel eine Ersatzerbeneinsetzung der Kinder für den Fall des Vorversterbens des anderen Ehegatten. Die Auslegung des gemeinschaftlichen Testaments wird insoweit regelmäßig ergeben, dass mit der Schlusserbeneinsetzung der Kinder auch eine umfassende Ersatzerbeneinsetzung für andere Wegfallgründe als dem des Vorversterbens gewollt war. Dem überlebenden Ehegatten bleiben in diesem Fall nur Pflichtteils- und Zugewinnausgleichsansprüche gegen die Kinder als alleinige Erben des erstverstorbenen Ehegatten.

Anwendung auf den Praxisfall

Der überlebende Ehegatte M kann zu Lebzeiten über sein Vermögen zugunsten Dritter verfügen, auch zugunsten seiner neuen Ehefrau. Das gemeinschaftliche Testament hindert ihn nicht daran (§ 2286 BGB analog). Allerdings drohen nach dem Tod des M unter den Voraussetzungen des § 2287 BGB Herausgabeansprüche von K1 und K2 gegen die Beschenkten.

Die Ausschlagungsfrist von sechs Wochen aus § 1944 BGB ist abgelaufen. M hat jedoch die Möglichkeit, das gemeinschaftliche mit F errichtete Testament nach § 2079 BGB anzufechten. Die Anfechtung hätte allerdings im Praxisfall zur Folge, dass K1 und K2 Ersatzerben nach F werden. M wäre jedoch in seiner Verfügungsfreiheit in Bezug auf seinen eigenen Nachlass nicht mehr gebunden. M wird mit Blick auf die wirtschaftlichen Verhältnisse diese Option für sich ernsthaft in Erwägung ziehen, um sich durch faktischen Verzicht auf die Erbschaft der F in Höhe von 50.000 € gegenüber K1 und K2 „freizukaufen“.

Empfehlungen für die Praxis

Eine Selbstanfechtung will gut überlegt sein, da zwar die Schlusserbenbestimmung nicht mehr gilt und der Anfechtende auf diese Weise seine Testierfreiheit zurückerlangt, er aber im Gegenzug aufgrund ergänzender Auslegung des gemeinschaftlichen Testaments auch die Erbenstellung nach dem erstverstorbenen Ehegatten regelmäßig einbüßt. Eine fachkundige Beratung ist aufgrund der für den juristischen Laien kaum überblickbaren Voraussetzungen und Folgen einer Selbstanfechtung zwingend erforderlich, um das gewünschte Ergebnis zu erzielen.

Hinweis

Will ein Erblasser verhindern, dass der überlebende Ehegatte das gemeinschaftliche Testament anficht, muss er die Anfechtung nach § 2079 BGB wegen des Hinzutretens eines Pflichtteilsberechtigten ausschließen. So wird die Schlusserbeneinsetzung auch bei einer Wiederverheiratung des längerlebenden Ehegatten bestandsfest.

Fazit

Gemeinschaftliche Testamente bergen für den juristischen Laien Risiken mit häufig fatalen Folgen. So erlischt das Recht zum Widerruf wechselbezüglicher Verfügungen mit dem Tod des anderen Ehegatten, wenn das Testament keine Öffnungsklausel vorsieht. Heiratet der Längerlebende neu, steht ihm ein Anfechtungsrecht wegen Übergehung eines Pflichtteilsberechtigten zu (§ 2079 BGB). Die Anfechtung, die gut überlegt sein will und nur nach Beratung erfolgen sollte, führt in der Regel zum Wegfall der Erbenstellung des Anfechtenden. Dafür erhält der Längerlebende wieder die Möglichkeit, frei zu testieren. Wollen Eheleute bei Errichtung eines gemeinschaftlichen Testaments verhindern, dass einer von Ihnen den gemeinsamen Nachlassplan durch Anfechtung durchkreuzt, können sie das Anfechtungsrecht ausschließen.

Autoren

Dr. Thomas Leuer und Dr. W.-P. Haarmann sind Fachanwälte für Erbrecht. Sie sind auf das streitige Erbrecht spezialisiert.

Dr. Peus · Dr. Leuer · Dr. Haarmann
Partnerschaft von Rechtsanwälten mbB · Notar