Erbrechtliche Grundlagen: „Der Pflichtteil“

In unserem aktuellen Artikel beleuchten wir die wichtigen Grundlagen des Pflichtteilsrechts und die Herausforderungen, die bei dessen Durchsetzung auftreten können. Besonders im Fokus steht ein Praxisfall, der die Spannungen zwischen enterbten Pflichtteilsberechtigten und den eingesetzten Erben eindrucksvoll verdeutlicht. Hierbei beleuchten wir die komplexen rechtlichen Auswirkungen eines Berliner Testaments und die möglichen Ansprüche der Ehefrau und der Kinder im Kontext von Pflichtteilsstrafklauseln.

Mit konkreten Fallvarianten und rechtlichen Erläuterungen bieten wir Ihnen wertvolle Einsichten darüber, wie Pflichtteilsansprüche geltend gemacht oder abgewehrt werden können. Wenn Sie sich in einer ähnlichen Situation befinden oder Fragen zur Thematik haben, laden wir Sie ein, unseren vollständigen Artikel zu lesen, um fundierte Informationen und praktische Tipps zu erhalten.

Einleitung

Neben der Auslegung von Testamenten und der juristischen Bewertung lebzeitiger Schenkungen stellt die Durchsetzung von Pflichtteilsforderungen und die Abwehr unberechtigter Pflichtteilsansprüche den Schwerpunkt des im streitigen Erbrecht tätigen Fachanwalts dar. Das gesetzliche Pflichtteilsrecht soll den nächsten Angehörigen des Erblassers (Abkömmlingen, Eltern, Ehegatten) eine wertmäßige Mindestbeteiligung am Nachlass sichern, die der Erblasser grundsätzlich nicht einseitig entziehen kann. Das Spannungsfeld zwischen dem Prinzip der Testierfreiheit des Erblassers einerseits und dem verfassungsrechtlich geschützten Verwandtenerbrecht führt naturgemäß zu Streit zwischen enterbten Pflichtteilsberechtigten und den eingesetzten Erben. Der Artikel stellt die Grundlagen des Pflichtteilsrechts und typische Problemkreise vor.

Praxisfall

Ehefrau A lebt in zweiter Ehe mit ihrem Ehegatten B im gesetzlichen Güterstand der Zugewinngemeinschaft. Die Ehefrau A hat aus erster Ehe eine Tochter T und einen Sohn S. Der Ehegatte B hat keine eigenen Kinder und hat T und S auch nicht adoptiert. A und B haben ein Berliner Testament errichtet, in dem sie sich gegenseitig als Alleinerben des Erstverstorbenen eingesetzt haben und T und S zu Schlusserben des Letztverstorbenen. Das Testament enthält eine Pflichtteilsstrafklausel, die T und S davon abhalten soll, nach dem Tod des Erstverstorbenen gegen den Willen des länger lebenden Ehegatten Pflichtteilsansprüche geltend zu machen.

1. Variante

Der Ehemann B stirbt und hinterlässt neben seiner Witwe A auch noch seine Mutter M, die zu ihrer zweiten Schwiegertochter nie ein gutes Verhältnis hatte. In den Nachlass des B fällt nach Abzug der Verbindlichkeiten ein Barguthaben in Höhe von 400.000,- €. M fordert von der Alleinerbin A einen Betrag in Höhe von 50.000,- € als Pflichtteil. A verweigert die Zahlung.

2. Variante

Die Ehefrau A stirbt. In den Nachlass fällt ein Barguthaben in Höhe von 350.000,- €. Ihre Kinder T und S verlangen von B den Pflichtteil.

Verfassungsrechtliche Grundlagen des Pflichtteilsrechts von Abkömmlingen

Die Testierfreiheit als Bestandteil der Erbrechtsgarantie (Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG) umfasst die Befugnis des Erblassers, zu Lebzeiten einen von der gesetzlichen Erbfolge abweichenden Übergang seines Vermögens nach seinem Tode anzuordnen, insbesondere einen gesetzlichen Erben von der Nachlassbeteiligung auszuschließen und wertmäßig auf den gesetzlichen Pflichtteil zu beschränken (BVerfG, Beschl. v. 19.04.2005 – 1 BvR 1644/00, 1 BvR 188/03). Dem Erblasser ist hierdurch die Möglichkeit eingeräumt, die Erbfolge selbst durch Verfügung von Todes wegen weitgehend nach seinen persönlichen Wünschen und Vorstellungen zu regeln (vgl. BVerfGE 58, 398; 99, 350 f.). Insbesondere sind Testierende nicht verpflichtet, ihren nächsten Angehörigen etwas zuzuwenden oder Abkömmlinge erbrechtlich gleichzustellen.

Das Prinzip der Testierfreiheit wird jedoch durch das Prinzip des Verwandtenerbrechts eingeschränkt. Das Bundesverfassungsgericht hat hierzu ausgeführt, dass das gesetzliche Pflichtteilsrecht Kindern des Erblassers eine „grundsätzlich unentziehbare und bedarfsunabhängige wirtschaftliche Mindestbeteiligung an dessen Nachlass“ gewähre und durch die Erbrechtsgarantie in Art. 14 i. V. m. Art. 6 GG gewährleistet werde. (Beschl. v. 19.04.2005 – 1 BvR 1644/00, 1 BvR 188/03). Das Pflichtteilsrecht sei insoweit Ausdruck einer Familiensolidarität, die in grundsätzlich unauflösbarer Weise zwischen dem Erblasser und seinen Kindern bestehe. Art. 6 Abs. 1 GG schütze dieses Verhältnis im Sinne einer lebenslangen Gemeinschaft, innerhalb derer Eltern wie Kinder nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet seien, füreinander sowohl materiell als auch persönlich Verantwortung zu übernehmen. Diese Verpflichtung zur gegenseitigen umfassenden Sorge, die sich auch in den wechselseitigen Unterhaltspflichten wiederspiegele, rechtfertige es, dem Kind mit dem Pflichtteilsrecht auch über den Tod des Erblassers hinaus eine ökonomische Basis aus dem Vermögen des verstorbenen Elternteils zu sichern.

Gesetzliche Regelungen zum Pflichtteils- und Pflichtteilsergänzungsanspruch

Das Pflichtteilsrecht ist im 5. Buch des Bürgerlichen Gesetzbuchs (§§ 2303 bis 2338 BGB) geregelt.

Der Kreis der Pflichtteilsberechtigten ergibt sich aus § 2303 Abs. 1 S. 1 und Abs. 2 BGB:

  • die Abkömmlinge des Erblassers, d. h. die leiblichen oder adoptierten Kinder bzw. – falls die Kinder vorverstorben sein sollten – die Kindeskinder, weil diese in gerader Linie mit dem Erblasser verwandt sind (§ 1589 S. 1 BGB),
  • die Eltern des Erblassers, ohne dass die Geschwister des Erblassers oder dessen Großeltern im Fall des Vorversterbens der Eltern an deren Stelle träten,
  • der Ehegatte des Erblassers, wobei aus dem Verweis in § 2303 Abs. 2 S. 2 BGB auf § 1371 BGB folgt, dass der Wert des Ehegattenpflichtteils als „großer Pflichtteil“ (erbrechtliche Lösung) und dem „kleinen Pflichtteil“ (güterrechtliche Lösung) errechnet werden kann, wenn der Erblasser im Güterstand der Zugewinngemeinschaft gelebt hat,
  • der Lebenspartner des Erblassers (§ 10 Abs. 1 LPartG).

Die Höhe des Pflichtteils ist in § 2303 Abs. 1 S. 2 BGB geregelt, seine Berechnung in § 2311 Abs. 1 S. 1 BGB. Der Pflichtteil besteht in der Hälfte des Wertes des gesetzlichen Erbteils (Pflichtteilsquote, s. u.). Für die konkrete Berechnung der Höhe des Pflichtteils ist der Bestand und der Wert des Nachlasses zur Zeit des Erbfalls maßgeblich.

  • Um die Höhe der Pflichtteilsquote zu bestimmen, ist es daher – unabhängig davon, ob ein Testament vorliegt – erforderlich, zunächst den gesetzlichen Erbteil zu ermitteln, § 2303 Abs. 1 Satz 2 BGB.
  • Sodann ist der Bestand und der Wert des Nachlasses zum Zeitpunkt des Erbfalls zu ermitteln, § 2311 Abs. 1 S. 1 BGB.
  • Unter Zugrundelegung der Pflichtteilsquote und dem Wert des Nachlasses ist sodann der konkrete Pflichtteilsanspruch zu errechnen. Hierbei handelt es sich um einen schuldrechtlichen Anspruch gegen den Erben, den Pflichtteil auszuzahlen.
  • Der Anspruch aus dem Pflichtteil entsteht gemäß § 2317 Abs. 1 BGB mit dem Erbfall und unterliegt der Regelverjährung von drei Jahren nach §§ 195, 199 BGB.


Pflichtteilsberechtigte, die von dem Erblasser enterbt worden sind, verfügen in der Regel über keine Kenntnisse zu Bestand und Wert des Nachlasses. Aus diesem Grund gewährt § 2314 BGB Pflichtteilsberechtigten einen Auskunfts- und Wertermittlungsanspruch gegen den Erben, um den Nachlass ermitteln und den Zahlungsanspruch beziffern zu können. Der Erbe kann der Nachweis, dass er Gesamtrechtsnachfolger des Erblassers ist (§ 1922 BGB), durch Vorlage eines Erbscheins oder durch Vorlage eines öffentlichen Testaments nebst Eröffnungsprotokoll führen und muss sich auf diese Weise sämtliche für die Vorlage eines vollständigen Nachlassverzeichnisses erforderlichen Informationen beschaffen, z. B. durch Einholung der Anzeigen der Banken nach § 33 ErbStG.

Pflichtteilsberechtigte sollten ihre Ansprüche umgehend und umfassend geltend machen und den Erben auf diese Weise in Verzug setzen. Dies hat zur Folge, dass der Erbe nicht nur den Pflichtteil zu zahlen, sondern auch zwischenzeitlich auflaufende Zinsen an den Pflichtteilsberechtigten zu erstatten hat.

Praxistipp

Pflichtteilsberechtigte haben gegen den Erben nicht nur einen Anspruch auf Auskunft über den Bestand des Nachlasses. Sie können auch verlangen, dass ein Nachlassverzeichnis durch einen Notar aufgenommen wird. Pflichtteilsberechtigte sollten deshalb privatschriftliche Nachlassverzeichnisse des Erben besonders kritisch prüfen und ggf. einen Fachanwalt für Erbrecht hinzuziehen, zumal der Erbe erforderlichenfalls verpflichtet ist, die Richtigkeit und Vollständigkeit der diesbezüglichen Auskünfte an Eides statt zu versichern, § 260 BGB. Erforderlichenfalls sollten die Pflichtteilsberechtigten von ihrem Recht auf Vorlage eines notariellen Verzeichnisses Gebrauch machen, weil solche Verzeichnisse regelmäßig eine andere Qualität aufweisen als privatschriftliche Nachlassverzeichnisse. Der Notar darf sich nicht allein auf die Angaben des Erben verlassen. Er ist sogar in gewissem Umfang verpflichtet, eigene Ermittlungen durchzuführen.

Für den Fall, dass der Erblasser binnen zehn Jahren vor seinem Tod Dritten eine Schenkung zugewendet, kann neben den ordentlichen Pflichtteilsanspruch noch ein Anspruch auf Pflichtteilsergänzung nach § 2325 BGB treten. Auf diese Weise soll verhindert werden, dass der Erblasser kurz vor seinem Tod mutwillig den späteren, für die Pflichtteilshöhe maßgeblichen Nachlass aushöhlt und auf diese Weise die verfassungsrechtlich geschützte Teilhabe des Pflichtteilsberechtigten am ungeschmälerten Nachlass vereitelt. Dabei gilt das sog. Abschmelzungsprinzip nach § 2325 Abs. 3 BGB, d. h. dass Schenkungen, die mehr als zehn Jahre vor dem Erbfall erfolgt sind, unberücksichtigt bleiben und für jedes Jahr, was zwischen Schenkung und Erbfall verstrichen ist, die Schenkung mit einem um 10 % geringeren Anteil für die Pflichtteilsergänzung in Ansatz gebracht wird.

Lösung Praxisfall

Variante 1

Rechtslage, wenn B vor A stirbt: Falls B vor seiner Ehefrau A stirbt, gilt Folgendes:

  • Testamentarische Alleinerbin nach dem Tod ihres Ehegatten B ist die Witwe A.
  • T und S sind weder leibliche noch adoptierte Abkömmlinge des B. Als reine Stiefkinder ohne rechtliches Verwandtschaftsverhältnis sind sie damit nicht pflichtteilsberechtigt i. S. d. § 2303 Abs. 1 S. 1 BGB.
  • Pflichtteilsberechtigt ist M als Mutter des Erblassers gemäß § 2303 Abs. 2 S. 1 BGB.
  • M steht ein Pflichtteil von 1/8 zu:

Zu der Berechnung des Pflichtteils der M

Der Pflichtteil besteht in der Hälfte des Wertes des gesetzlichen Erbteils, § 2303 Abs. 1 S. 2 BGB. Hier ist die M als Mutter des Erblassers gesetzliche Erbin zweiter Ordnung, § 1925 Abs. 1 BGB. Gemäß § 1931 Abs. 1 S. 1 BGB ist die Witwe neben der Schwiegermutter zur Hälfte der Erbschaft als gesetzliche Erbin berufen, wobei A über § 1931 Abs. 3 i. V. m. § 1371 BGB ein weiterer Anteil von 1/4 als gesetzlichem Erbteil zusteht. Folglich ist A gesetzliche Erbin zu 3/4 Anteil und M gesetzliche Erbin zu 1/4 Anteil. Der Pflichtteil als Hälfte des gesetzlichen Pflichtteils beläuft sich damit auf 1/8 Anteil. M steht damit ein gegen die Alleinerbin A gerichteter Anspruch zu auf Auszahlung von 1/8 Anteil des Nachlasswerts, hier 50.000,- €

2. Variante

Rechtslage, wenn A vor B stirbt: Falls A vor seinem Ehemann B stirbt, gilt Folgendes:

  • Testamentarischer Alleinerbe nach dem Tod ihrer Ehegattin A ist der Witwer B.
  • T und S sind als leibliche Abkömmlinge der A pflichtteilsberechtigt, § 2303 Abs. 1 S. 1 BGB.
  • Der Pflichtteil von T und S beläuft sich auf jeweils 1/8.

Zu der Berechnung des Pflichtteils von T und S

Der Pflichtteil besteht in der Hälfte des Wertes des gesetzlichen Erbteils, § 2303 Abs. 1 S. 2 BGB. T und S sind gesetzliche Erben erster Ordnung und erben zu gleichen Teilen, § 1924 Abs. 1 und 4 BGB. Gemäß § 1931 Abs. 1 Satz 1 BGB ist der Witwer B neben T und S zu einem Viertel der Erbschaft als gesetzlicher Erbe berufen, wobei B über § 1931 Abs. 3 i. V. m. § 1371 BGB ein weiterer Anteil von 1/4 als gesetzlichem Erbteil zusteht. Folglich ist B gesetzlicher Erbe zu 1/2 Anteil und T und S sind gesetzliche Erben zu jeweils 1/4 Anteil. Der Pflichtteil als Hälfte des gesetzlichen Pflichtteils beläuft sich damit auf jeweils 1/8 Anteil. T und S stehen damit gegen den Alleinerben B gerichtete Ansprüche zu auf Auszahlung von jeweils 1/8 Anteil des Nachlasswerts. Die Pflichtteilsstrafklausel aus dem Testament von A und B greift, falls der Pflichtteil gegen den Willen des B geltend gemacht wird. Sowohl als Pflichtteilsberechtigte nach ihrer Mutter A als auch als Schlusserben ihres Stiefvaters B steht A und B ein Freibetrag von 400.000,- € zu, § 16 Abs. 1 Nr. 2 i. V. m. § 15 Abs. 1 Nr. 2 ErbStG.

Praxistipp

Pflichtteilsstrafklauseln finden sich häufig in gemeinschaftlichen Testamenten. Sie sollen die Kinder davon abhalten, Pflichtteilsansprüche nach dem Tod des Erstversterbenden geltend zu machen. Der Längerlebende soll wirtschaftlich nicht belastet werden. Besonders bei größeren Vermögen kann eine unüberlegte Pflichtteilsstrafklausel steuerschädlich sein. In jedem Fall sollte die Pflichtteilsstrafklausel so formuliert sein, dass sie nur dann eingreift, falls der Pflichtteil gegen den Willen des Längerlebenden geltend gemacht wird. Fachkundige Beratung ist – wie im gesamten Bereich der Testamentserrichtung – unabdingbar.

Fazit

Das Pflichtteilsrecht wird durch das Grundgesetz garantiert. Pflichtteilsberechtigt sind grundsätzlich Abkömmlinge, Eltern und Ehegatten. Nicht pflichtteilsberechtigt sind hingegen die Geschwister des Erblassers. Der Pflichtteilsanspruch richtet sich nach dem Nachlasswert zum Zeitpunkt des Erbfalls. Die Pflichtteilsquote besteht in der Hälfte des Wertes des gesetzlichen Erbteils. Es handelt sich um einen schuldrechtlichen Anspruch gegen den Erben in Geld. Dem Pflichtteilsberechtigten stehen nach dem Gesetz umfassende Auskunftsansprüche gegen den Erben zu, um seinen Anspruch berechnen zu können. Hierzu gehört insbesondere die Vorlage eines notariellen Nachlassverzeichnisses.

Autoren

Dr. Thomas Leuer und Dr. W.-P. Haarmann sind Fachanwälte für Erbrecht. Sie sind auf das streitige Erbrecht spezialisiert.

Dr. Peus · Dr. Leuer · Dr. Haarmann
Partnerschaft von Rechtsanwälten mbB · Notar